Teures Porzellan steht auf dem Tisch. Der Zeiger an der Wand dreht stumm seine Kreise. Es ist Dezember, der 26. Ich sitze am runden Holztisch gedeckt in grün und Zerbrechlichem. In den Händen meiner Grossmutter klappert das Jagdgeschirr. Mein Grossvater hatte es nur für Besonderes aus dem Staubschrank gezogen. Heute schmückt es den Tisch. Vor zwei Jahren ist er verstorben. Das Zerbrechliche hat ihn überlebt - meine Oma und das Jagdgeschirr. Sie ist einsam. Kommt nur raus für spezielle Anlässe, so wie das Porzellan. Ihr Blick sieht durch mich hindurch in tiefe Ferne. Ich versuche ihn zu halten, auf dieser Welt und am Leben. Ich lege ihr Gedichte vor, die ich im November schrieb. Eines liest: „Berühr mich, wenn ich im Sterben liege - auch ein toter ist ein schöner Mensch.“ Ihre Tränen rühren mich - ihre Schönheit ist verschwestert mit dem Tod.
Sie glaubt der Grossvater schickt ihr Krankheiten. Sein rehäugiges Jagdgeschirr bezeugt das - es ist ein Omen auf dem Tisch, ein Zeugnis der Vergänglichkeit, Form und Container unglücklichen Vermissens. Ich vermisse ihn nicht. Nur die Zeit, in der ich nicht verstand, was Sterben hiess. Die Zeit, in der Grossmutter bloss Oma war, nicht eine Frau mit vernarbter Vergangenheit, blutender Ehe und lahmer Zukunft. Kein Geschöpf der Nazi-Zeit, Produkt des Patriarchats, Zeugin des erneuten Rechtsdrifts der Politik, des Kriegs in der Ukraine, der pochenden Frauenkämpfe im Iran, in Afghanistan - dem Streit um das Recht auf Abtreibung. Ich dachte die Frage, ob Frauen Menschen seien, hätten wir im 18. Jahrhundert geklärt.
Nun sieht meine Oma durch mich durch. Sie spricht, ihr Mund sagt, die Politik erinnere sie an Früher. Sie sagt, sie werde nicht mehr lange leben. Ihre Stimme trägt Erleichterung wie eine Waffe, die mich durchbohrt. Ich habe mein Leben noch nicht gelebt. Keine Erlösung erwartet mich im Tod. Das Prozellan klappert. Oma zieht sich mit krummen Fingern vom Tisch in die Höhe. Mein Blick trifft die Uhr - ich erwische mich beim Gedanken, wie ich Opa für die Zeit danke, die ich und Oma teilen. Das Jagdgeschirr wandert in den Staubschrank, meine Oma in plüschigen Socken in die Küche.
Ich, das einzige Zerbrechliche, das am Tisch zurückbleibt.
Ich jage meiner Zukunft nach
– mein Gewehr aus Porzellan.
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