Die Unsicherheit überfiel mich zum ersten Mal in einem kleinen französischen Kiosk. Die Verkäuferin, Mitte zwanzig, trug ein gelb-grün-weiss gestreiftes T-Shirt und eine Brille. Eine lockige Strähne fiel ihr ins Gesicht. In jugendlich-trotziger Haltung lehnte sie am Verkaufstresen, wickelte die Locke um ihren Finger und starrte mich fragend an. Ich verstand sofort: Hier wird nicht gefragt. Also murmelte ich etwas von einem Thunfischbrötchen. Sie steckte es in den Toaster und wir warteten schweigend, bis sie endlich die Stille brach: «Il fait très chaud». Ich interpretierte den Satz als Frage, im Nachhinein war es wohl eine Feststellung. Ich antwortete, indem ich ihren Satz wiederholte und ein «Oui» davor setzte. In diesem Moment fühlte ich mich unglaublich sprachgewandt, doch kurz darauf schämte ich mich dafür und reflektierte, ob meine Idee, acht Monate in Frankreich zu verbringen, eine gute Entscheidung war.
Statt fliessend zu kommunizieren, reduziere ich mich nun also auf ein «Oui» und die Wiederholung des Gesagten. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft für jemanden, der in seiner Muttersprache gerne schreibt, spricht und liest.
Auf der Suche nach einer Erklärung für mein sprachliches Unbehagen stiess ich auf den Begriff «Foreign Language Classroom Anxiety», der in den 1970er-Jahren von den Wissenschaftler:innen Elaine K. Horwitz und Michael B. Horwitz geprägt wurde. Um mehr darüber zu erfahren, spreche ich mit Liana Konstaninidou, Professorin für Angewandte Linguistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Sie beschreibt «Foreign Language Classroom Anxiety» als eine spezifische Stressreaktion, die mit dem Erlernen einer Fremdsprache verbunden ist. Besonders betroffen sind produktive Tätigkeiten wie das Sprechen oder Schreiben, die oft von Selbstzweifeln begleitet werden.
Auch ich frage mich häufig: «Bin ich gut genug?», «Komme ich verständlich rüber?». Diese Unsicherheiten hängen stark mit der Einstellung zusammen, die wir gegenüber Sprache entwickelt haben. Schon in der Schule lernen viele von uns, dass es wichtig sei, sich korrekt auszudrücken und keine Fehler zu machen. «Diese Narrative prägen unsere Einstellung zur Sprache», erklärt Professorin Konstaninidou.
Sie betont, dass neben den schulischen Erfahrungen der individuelle Spracherwerb sowie die Selbstwirksamkeit – also das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, eine Aufgabe erfolgreich zu bewältigen – eine Rolle spielen. Eine besondere Gefahr sieht die Linguistin darin, Sprache lediglich als eine starre Struktur zu begreifen: «Wenn ich denke, Sprache sei stark normiert, bin ich eher zurückhaltend und gehemmt. Wenn ich Sprache jedoch als Instrument sehe, um Probleme zu lösen oder Situationen zu meistern, wird die grammatikalische Korrektheit viel weniger wichtig.»
Ich erinnere mich an meinen Französischunterricht, in dem es auch überwiegend darum ging, möglichst korrekt zu schreiben: keine Konjugationsfehler zu machen und wenn es dann endlich ums Sprechen ging, dann ging es darum, eine möglichst langweilige, fehlerfreie Präsentation über Toulouse zu halten.
Aber meine Angst vor dem Sprechen wird nur vorübergehend sein. Ich bin in der privilegierten Situation, dass ich Französisch lerne, weil ich will – nicht weil ich muss.
Für andere ist das Erlernen einer neuen Sprache nicht nur eine Frage der Kommunikation, sondern oft auch eine Frage des Überlebens. Es ist ein Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung. Ich frage Professorin Konstaninidou, ob Menschen mit Migrationshintergrund öfter von dieser Sprachangst betroffen sind. «Ja», antwortet sie, «Menschen, die aus Migrationsgründen eine Sprache lernen müssen, stehen stärker unter Druck. Von ihnen wird verlangt, die Sprache zu lernen – das ist gesetzlich vorgesehen». Um eine Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) in der Schweiz zu erhalten, sind Sprachkenntnisse Pflicht. Verlangt werden Sprachkenntnisse auf Niveau A2 mündlich und A1* schriftlich. Auch um ein Studium aufnehmen zu können, müssen sprachliche Voraussetzungen erfüllt sein.
Ich möchte herausfinden, wie es Studierenden mit Migrationshintergrund geht, und bin mit Kerstin Pramstaller von der Universität Innsbruck verabredet. Sie ist dort als Dozentin tätig und bereitet Menschen mit Migrationshintergrund auf die B2-Prüfung in Deutsch vor. Es ist die sprachliche Voraussetzung, um sich für ein Studium an der Universität Innsbruck immatrikulieren zu können. Laut Pramstaller seien Ängste unter den Studierenden mit Migrationshintergrund weit verbreitet. Neben dem psychischen Druck, die B2-Prüfung in Deutsch zu bestehen, damit das Visum verlängert wird und ein Studium aufgenommen werden kann, kommen finanzielle Sorgen hinzu. Einige der Studierende haben bereits Familie: «Es ist nicht leicht, das zu bewältigen und die Motivation nicht zu verlieren», sagt Pramstaller.
Konstaninidou, Professorin an der ZHAW in Zürich, empfiehlt deshalb, den Aufenthaltstitel nicht vom Sprachniveau abhängig zu machen: Aus der Forschung wisse man, «dass Migrant:innen die Sprache des Aufnahmelandes gerne lernen, wenn die Bedingungen stimmen – also wenn es gute Kursangebote gibt, eventuell mit Kinderbetreuung oder zu Zeiten, die sich mit der Arbeit oder der Schulzeit der Kinder vereinbaren lassen». Wenn Migrant:innen die Sprache schnell erlernen müssen, führe das oft zu Ängsten und wirke sich kontraproduktiv auf den Spracherwerb aus, da die Sprache nicht in Ruhe und einem geschützten Raum erlernt werden kann.
Ich selbst bin keine Betroffene. Ich musste mein Land nie verlassen, nie wirklich Anpassung lernen. Hier in Frankreich geniesse ich den Luxus, dass meine Freund:innen aus der Heimat mich besuchen. Wir verbringen unbeschwerte Tage am Strand oder sitzen im Café, tauschen uns aus und lachen. In der Sprachschule begegne ich jedoch den unterschiedlichsten Menschen: Deutsche im Bildungsurlaub, ein norwegischer Lehrer, der schon immer Französisch lernen wollte, zwei Medizinstudent:innen im Erasmus-Programm. Aber da sind auch andere. Ein Iraner, ein Russe, jemand aus Korea. Sie alle versuchen, sich in Frankreich ein neues Leben aufzubauen – und auf ihren Schultern lastet ein enormer Druck.
«Am Anfang ging es vor allem ums Überleben», erzählt mir Informatikstudentin Reihaneh Karimi. Sie kam 2021 zum Studieren aus dem Iran nach Österreich und besuchte dort den Vorstudienlehrgang bei Kerstin Pramstaller. Ihr Alltag sei von Lernen, Schlafen und Essen geprägt gewesen, dazu kamen die Sorgen um die Verlängerung ihres Visums.
Inzwischen hat Karimi sich jedoch in Österreich eingelebt. Sie hat österreichische Freund:innen gefunden, betreibt Sport – «wie alle anderen Studierenden auch», sagt sie.
Besondere Schwierigkeiten bereiteten ihr zu Beginn jedoch die sprachlichen Barrieren, insbesondere der österreichische Dialekt. «Ich war einfach total überrascht und habe mir Sorgen gemacht, weil ich die Leute nicht verstanden habe», erinnert Karimi sich. «Im Vorstudium lernen die Studierenden Standarddeutsch», erklärt Dozentin Pramstaller. Sobald sie jedoch die Universität verlassen, seien sie fast ausschliesslich mit Dialekt konfrontiert – oft sogar in formellen Situationen.
Die zusätzliche Herausforderung, Dialekt verstehen zu müssen, betrifft auch Deutschlernende in der Schweiz. Ein paar Tage später reisse ich deshalb dieses Thema im Gespräch mit Professorin Konstaninidou an. Sie sieht hier Verbesserungspotenzial: In der Schweiz wird oft von Migrant:innen erwartet, dass sie Dialekt verstehen, betont Konstaninidou.
Gleichzeitig sei es entscheidend, dass Schweizer:innen zumindest in formellen Situationen die Standardsprache sprechen. «Wenn Integration wirklich ein wechselseitiger Prozess sein soll, sollte das ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber denen sein, die sich bemüht haben, Standarddeutsch zu lernen», sagt Professorin Konstaninidou.
Karimi, die zu Beginn vor allem Angst hatte, von Muttersprachler:innen negativ bewertet zu werden und nicht akzeptiert zu werden, ist im Laufe der Jahre deutlich selbstbewusster geworden. Heute führe sie regelmässig ungezwungene Gespräche, erzählt sie: «Ich mache jetzt Smalltalk mit Kellner:innen, Verkäufer:innen oder spreche Wartende in einer Schlange an und merke, dass die Welt nicht untergeht, wenn ich Fehler mache oder ich jemanden nicht sofort verstehe.»
Um ihr Visum zu verlängern, muss Karimi jedoch weiterhin Leistung in der Universität erbringen und mindestens 16 ECTS-Punkte** pro Studienjahr vorweisen.
Zurück im kleinen Kiosk nehme ich mein matschiges Brötchen entgegen, das irgendwie doch mit Käse belegt ist und nicht mit Thunfisch. Ich kehre in meine Sprachschule zurück und verbringe den restlichen Tag lesend am Meer. Dort, mit dem Buch in der Hand und dem Rauschen der Wellen im Hintergrund, denke ich an ein Zitat aus dem Buch Sprache und Sein von Kübra Gümüşay, in dem sie schreibt:
«Nicht jeder Mensch kann in der Sprache, die er spricht, sein. Nicht etwa, weil er die Sprache nicht ausreichend beherrscht, sondern weil die Sprache nicht ausreicht.»
* Die Niveaus A1 bis C2 beschreiben Sprachkenntnisse von Anfängern bis hin zu nahezu muttersprachlicher Kompetenz: A1/A2 für Grundkenntnisse, B1/B2 für selbstständige Sprachverwendung und C1/C2 für fortgeschrittene bis nahezu perfekte Beherrschung.
** ECTS-Punkte (European Credit Transfer System) messen den Studienaufwand: 1 Punkt entspricht etwa 25–30 Stunden Arbeit. Pro Studienjahr werden meist 60 ECTS vergeben, um Leistungen europaweit vergleichbar zu machen.
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