Wenn die Sonne scheint, bekommt man den Eindruck, dass sich die Laune der Berliner am bessern ist. Die Begegnungen auf der Strasse sind wieder heiterer geworden und denkbar oft kreuzt man ein vages Lächeln. Seit dem „Social-Distancing“ hatte sich das Strassenbild augenfällig geleert. Ein flüchtiger Blickkontakt oder eine kurze Begegnung scheint die einzige Interaktion auf den Strassen zu sein.
Dabei sind die Strassen Berlins immer bewohnt. Nun, Corona-bedingt, sind sie angenehm eher lichte als dichte belebt. In diesen Zeiten erinnere ich mich gerne, wie man zuvor Leuten begegnet ist, Dinge erlebt hat oder auf unerwartete Ereignisse gestossen ist, die plötzlich und ungewollt zu einer persönlichen Geschichte wurden.
Am Wochenende sind Flohmärkte ein grosser Anziehungspunkt in Berlin und ein Ort, an dem man vielen Menschen begegnet. Als ich mit einer moosgrünen Nachttischlampe vom Flohmarkt nach Hause lief, machte ich eine berlinerische Bekanntschaft.
Ich hatte mir eine einfache, kegelförmige Lampe auf dem Flohmarkt an der Tretbahn ergattert und war mit dem guten Stück unter dem Arm geklemmt auf dem Weg nach Hause. Plötzlich sprach mich ein älterer Herr an. Er hatte graues, zerzaustes Haar, trug eine grosse Pilotenbrille und schob einen Einkaufswagen vor sich hin, der mit ungewöhnlichen, sonoren Objekten gefüllt war. Später erfuhr ich, dass er seit Jahrzehnten im HiFi-Geschäft ist. Er sprach mich auf die Lampe unter meinem Arm an. Dies sei ein originales DDR Design. Er wisse wovon er rede, denn er habe selbst in der DDR gelebt. So begann er mir aus seinem Leben zu erzählen, von dem Fluchtversuch und von seiner Inhaftierung. Seine Geschichtsstunde ging mir unter die Haut. Er beschrieb die Tage, die er in Haft ohne Licht und Essen verbracht hatte und berichtete von den Schlägen und dem brennenden Schmerz, den er erlitten hatte. Dann zeigte er auf meine Nachttischlampe und mit einer Geste der Verständnislosigkeit gab er zu erkennen, dass ihm das Begehren der jungen Menschen für die DDR-Ästhetik unbegreiflich ist. Die ganze Geschichte hatte er mir in kurzen und knappen Sätzen erzählt. Dann verabschiedete er sich mit einer leicht spöttischen Bemerkung zu meinem Lampenkauf und verschwand in die andere Richtung.
In Berlin herrscht eine grosse Kultur von Vernissagen. Jede Wiedereröffnung, Ausstellung und Neueröffnung, selbst Jahrestage werden von mehrtägigen Events begleitet. Diesen Winter wurde nach vollbrachter Renovierung die Friedrichswerdersche Kirche wieder eröffnet. Während zwei Tagen war sie frei zugänglich und leer. Normalerweise beherbergt die Kirche einen Teil der „Alte Nationalgalerie“-Sammlung. Als ich mich an jenem Wochenende zur Vernissage begab und auf meine Verabredung wartete, blieb mir etwas Zeit, um mich auf dem Gelände umzuschauen. Dabei fielen mir Details auf, die ich fotografieren wollte. Es war bitterkalt und meine Kamera hatte Probleme mit dem Fokussieren. Als ich da stand und die Backsteinmauern fotografierte, sprach mich eine Person an und wollte wissen, was ich da überhaupt sehe. Etwas überrascht führte ich die neue Bekanntschaft an meine Sichtweise und auf den Schattenwurf, der von der Materialität folgte, heran. Daraus entstand ein spannendes Gespräch über die Immobiliensituation Berlins. Diese Kirche wurde 1830 von Schinkel erbaut und ist nun zwischen zwei Neubauten eingepfercht. Die neuen Bauten sind nicht ortsgebunden und spiegeln eine sterile, charakterlose Architektur wieder. Nach der Meinung des Mannes fasst das Beispiel der eingekeilten Friedrichswerderscher Kirche die Immobilien-Situation in Berlin treffend zusammen. Investoren, Geld und eine entrückte Idee von der Moderne sind wegweisend für die Entwicklung, oder anders ausgedrückt, der Zerstörung der Berliner Architekturlandschaft nach Meinung meines Gesprächspartner.
Nicht zu vergessen sind die Überraschungsmomente im Alltag. Die U-Bahn Linie 8 hat mir schon einige beschert.
So zum Beispiel, als ich eines Nachts auf dem Weg nach Hause war. Im U-Bahnschacht stiess ich auf einen Haufen, der aus goldenen Erste-Hilfedecken bestand. Ich dachte mir nichts dabei, denn es schien nichts auffällig an diesem Bild. Plötzlich begann sich dieser Haufen zu bewegen. In einem rhythmischen Auf und Ab raschelte das Gold und es kamen vier nackte Füsse unter der Erste-Hilfedecke zum Vorschein.
Das war wohl der intimste Moment, dem ich beiwohnen konnten.
Nicht ganz so intim war die literarische Begegnung in der U8-Linie mit einer Frau, die neben mir ein Buch las: «Parteilichkeit der Literatur»
Als die Frau das Buch fertig gelesen hatte, übergab sie es mir ohne weitere Ausführungen. Knapp sagte sie mir noch: „Ist lesenswert“, legte das Buch neben mir hin und stieg aus der Bahn.
Es sind diese spontanen Gespräche und überraschenden Momente, die den Veranstaltungskalender in Berlin bereichern.
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